Sindelfingen. Mit der Aufführung der Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach leitete Matthias Hanke letztmals als Sindelfinger Kirchenmusikdirektor ein großes Konzert in der Martinskirche, bevor er im April sein Amt als Landeskirchenmusikdirektor in Stuttgart antritt. Obwohl das Konzert unter keinen optimalen Vorzeichen stand, wurde es nochmals ein Ausrufezeichen der ära Matthias Hanke.
Zwei Wolken schwebten von vornherein über dieser Matthäuspassion. Das Werk hat es allein schon von den aufführungspraktischen Dimensionen in sich: In 68 noch weiter untergliederte Einzelsätze ist Bachs Vertonung der letzten Tage im Leben Jesu bis zu dessen Kreuzigung und Grablegung nach dem Matthäus-Evangelium eingeteilt. Bach verteilt die Partie dafür auf zwei komplette Chöre und Orchester, die Gesamtaufführungsdauer beträgt rund drei Stunden.
Wolke eins: Ostern ist dieses Jahr früh, somit auch die Aufführung und die Probenzeit vergleichsweise knapp. Wolke zwei: Matthias Hanke wird schon seit Wochen in sein künftiges Amt eingearbeitet. Als der Aufführungsplan vor zwei, drei Jahren reifte, war jedenfalls davon auszugehen, dass er mehr Kräfte auf die Einstudierung dieses Mammutwerkes konzentrieren könnte.
Waren diese Rahmenbedingungen wenigstens seit einigen Monaten absehbar, so fuhr aus dieser Bewölkungslage kurz vor der Aufführung noch der Blitz. Der neben dem Dirigenten wichtigste Musiker, der weithin geschätzte Tenor Andreas Weller, für Arien und die Evangelisten-Rolle seit Langem gesetzt, sagte zwei Tage vor der Premiere wegen Kehlkopfentzündung seine Teilnahme ab. Mit Bernhard Schneider für den Samstag und Tilman Lichdi für den Sonntag wurden kurzerhand zwei Ersatzleute engagiert.
Was folgte, war am Samstag ein Donnerhall. Auch Ersatztenor Lichdi musste wegen Erkrankung passen. In aller Eile konnte Simon Bode verpflichtet werden: Dem Vernehmen nach erwies er sich als wahrhafter Glücksgriff für die Aufführung in der ungekürzten Version am Sonntag.
In der Samstagsaufführung mit der gekürzten Passion fehlte zwar die nickelige Geduld-Arie des Tenors, dennoch trat Bernhard Schneider nicht wie ein Ersatzmann auf. Seine Partie beherrscht er souverän, wandelt flexibel und schlüssig zwischen der eher ruhigen Rolle des schildernden Sängers und dem von der Ungeheuerlichkeit des Geschehens Mitgerissenen mit entsprechender Affektentladung.
Dass die Probenzeit auf Kante genäht war, ist dem Sindelfinger Chor Cappella Nuova so gut wie kaum anzumerken. Im Gegenteil zeigt das Ensemble die zupackende Entschlossenheit, die nötig ist, um die vielen kitzelig zu singenden Effekte des Werkes abzubilden wie ansatzlose Einwürfe, kleinteilige Frage-Antwort-Strukturen oder nahezu aus dem Stand explodierender Furor der Volkschöre.
Auch Bachs oft feingliedrige Polyfonie kommt sehr geordnet bei dem Chor, der zwar etwas mehr Frauenstimmenanteil hat, bei dem aber auch die Männer sich mehrfach als geballte Macht präsentieren. Kurzum, alles gesangstechnisch Schwierige meistert die Cappella Nuova sehr, sehr ansprechend auch in puncto barocker Stilistik mit ihrer typischen, oft kleinteiligen Liniengestaltung und -gewichtung.
Bei aller packenden Dramatik ragen bei dieser Bach-Passionsinterpretation die vielen Choräle heraus. Matthias Hanke lässt die mal um Nuancen bedrückter, frohgemuter oder feierlicher singen und zeigt damit auf, wie perspektivisch reich das Bach-Werk hier ist. Reicher zumindest als auf vielen hochgejubelten Einspielungen mit ihrer vergleichsweise einförmigen Choralinterpretation. Der Kinder- und Jugendchor schwebt als gelegentliche Zusatzstimme sanft und engelsgleich über den beiden Chorgruppen der Erwachsenen und den Orchestern, nicht zuletzt Nachweis einer stimmigen Kräftebalance im Gesamtapparat.
Mit dem Profi-Barockorchester L’Arpa Festante aus München steht ein Spezialistenensemble historischer Aufführungspraxis bereit, das zu einer ohnehin sehr plastischen Aufführung wunderbar Bachs Lautmalerei wie Faustschläge, Erdbeben oder fiebrige Nachtstimmung beisteuert. Viele Solo-Beiträge unter anderem der Violinen beweisen Top-Besetzung. Dennoch kommt das sehr inspiriert aufspielende Ensemble nicht komplett ohne Hakler durch den Abend.
Bass-Solist Thomas Hamberger setzt seine Akzente bei der Jesus-Rolle mehr auf würdevollen Gleichmut als die menschliche Erregung. Ein überraschend stimmlich starker Burkhard Seizer in mehreren Bass-Solorollen von Petrus bis Pilatus würzt seine Parts dagegen deutlich emotionaler. Kathleen Danke hat den präzisen, aber nicht allzu schmalen Sopran, den die Partie braucht ebenso wie Altistin Anna Haase, die den seltenen Nachweis liefert, dass Frau Bach auch mit dezentem Vibrato aufhübschen kann, ohne dass die Detailzeichnung leidet.
Summa summarum eine Aufführung, die gar nicht laienhaft wirkt, auch wenn mit Cappella Nuova und Kinder- und Jugendchor mehrheitlich Laien am Werk sind. Das rufen nur gelegentliche mit Choristen besetzte Kurz-Soloauftritte in Erinnerung, die nicht immer glücklich geraten.
Quelle: Sindelfinger Zeitung / Böblinger Zeitung vom 15.03.2016. Autor: Bernd Heiden