Bach im Geist von Cage

Ludwigsburger Motettenchor mit der Matthäus-Passion in der Stadtkirche

Von Harry Schmidt, Ludwigsburger Kreiszeitung vom 16.04.2019, S. 21

Ludwigsburg. Mehr als eineinhalb Minuten lässt Martin Kaleschke die Musikerinnen und Musiker verharren, mit denen der Ludwigsburger Bezirkskantor soeben Johann Sebastian Bachs „Matthäuspassion” realisiert hat. Sie vergehen in einer verblüffend unkompromittierten, nahezu kompletten Stille, bevor der dafür umso nachhaltigere Beifall einsetzt. Nachdem man fast drei Stunden lang der auch 292 (nach älteren Auffassungen 290) Jahre nach ihrer Uraufführung unfassbar packenden Musik des Leipziger Thomaskantors gelauscht hatte, entsteht ein markerschütternder Moment gedehnter Zeit.

Ein Moment zwischen Cage und Pärt, wenn man so will, in dem nicht nur das letzte „Ruhe sanft, sanfte ruh!” das Schlusschors nachhallt, ausgesprochen feinnervig intoniert vom hervorragend eingestellten, durch den Mädchenchoor des Goethe-Gymnasiums (Einstudierung: Susanne Kovalev) ergänzten Ludwigsburger Motettenchor, sondern nochmals viele Stationen des dramatischen Geschehens immer tiefer ins Bewusstseins sickern. Die feierliche Ernsthaftigkeit, mit der Kaleschke diesen Höhepunkt protestantischer Kirchenmusik gestaltet, arbeitet einem Eindruck entgegen, dem eine Leipziger Adlige im Witwenstand 1729 folgendermaßen Ausdruck verliehen haben soll: „Gott behüte, ihr Kinder! Ist es doch, als ob man in einer Opera-Comödie wäre!”

Ausgesprochen opulent

Und es ist ja auch etwas dran, unternimmt Bach in dieser oratorischen Passion doch so einiges, was dem Musiktheater seiner Zeit nicht fremd war. Der Wechsel von Arien, Rezitativen, Chorälen, Turbachören und freien Chorpassagen sorgt nicht zuletzt für Kurzweil, Arien wie „Buß und Reu”, in Ludwigsburg von der Altistin Wiebke Wieghardt höchst ansprechend dargeboten, sind mit dem Da-Capo-Prinzip der Oper durchaus vertraut. Zudem hat Bach die Bibelstellen des Evangelisten, in der gut besuchten Stadtkirche überaus brillant gestaltet vom ausgezeichnet artikulierenden Tenor Christian Georg, mithilfe  seines Librettisten Picander, der die meisten Arientexte verfasst hat, sowie acht Chorälen von Paul Gerhardt angereichert. Welche Bedeutung Bach der „Mattäuspassion” selbst beimaß, zeigt ein Blick auf den Autografen, der als Bachs schönstes Handschriftstück gilt. Die Bibelworte hat er mit roter Tinte eingetragen, ein Vorgehen, das sich nur an dieser einen Stelle seines großen Werkes findet. Mit sechs Solisten – neben den bereits genannten harmonieren an diesem Palmsonntag auch Angelika Lenter (Sopran), Johannes Kaleschke (Tenor), Timon Führ (Bass: Jesusworte) und Torsten Müller (Bass: Arien) vorzüglich –, zwei Chören und zwei Orchestern mit Mitgliedern des Ensemble Harmonique, ausgesprochen üppig besetzt, bietet sie gerade in ihrer doppelchörigen Anlage reiche Möglichkeiten zur Prachtentfaltung.

Dass nicht alle Musiker an Gott, aber alle an Bach glauben, lautet ein wahrlich treffendes Bonmot des Komponisten  Mauricio Kagel. So gelingt mit der Matthäuspassion unter Martin Kaleschke mit dem Ludwigsburger Motettenchor eine zurückgenommene, aber eindringliche, spirituelle Interpretation.